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Wie viele Menschen kann die Erde ernähren?

Welternährung

Wie viele Menschen kann die Erde ernähren?
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Wieviel Menschen kann die Erde tragen?
Droht der Erde der Kollaps? Oder könnte unser Planet mit nachhaltiger Politik noch weitere Milliarden tragen und ernähren? Unser Autor Cord Aschenbrenner machte 2011 eine noch immer aktuelle Bestandsaufnahme

„Die Menschheitsgeschichte ist an einem Wendepunkt angekommen“, warnte Nafis Sadik, damals Exekutiv-Direktorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, schon im Jahr 1992: „Das schnellste Bevölkerungswachstum seit Menschengedenken ist mit weit verbreiteter Armut und großen Entbehrungen verbunden. Gleichzeitig erleben wir, dass der Verbrauch von Rohstoffen ins Unermessliche steigt. Zusammengenommen stellen diese beiden Phänomene die ernsteste Bedrohung für die regionale wie für die globale Umwelt dar, seit es Menschen gibt.“

Nicht die schiere Menge der Menschen ist entscheidend

Nafis Sadiks Warnung vor einer „herannahenden ökologischen Katastrophe“ ist heute
noch aktueller als vor knapp 20 Jahren: Ende Oktober dieses Jahres wird die Erdbevölkerung nach UN-Berechnungen die Sieben-Milliarden-Grenze überschreiten. Seit 1900, damals waren es noch 1,6 Milliarden, hat sich die Menschheit also mehr als vervierfacht. Verantwortlich dafür sind mehrere eigentlich erfreuliche Faktoren: Seit Ende des 18. Jahrhunderts gingen auf der Nordhalbkugel die Sterberaten von Kindern, Jugendlichen und Müttern zurück. Im 19. und 20. Jahrhundert erfasste der Rückgang auch die Länder des Südens. Fortschritte in der Medizin, bessere hygienische Bedingungen und Innovationen in der Landwirtschaft trugen das Ihre zur längeren Lebenserwartung der Menschen bei. Die erste Milliarde hatte die Menschheit im frühen 19. Jahrhundert erreicht. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Menschen laut UN-Berechnungen auf voraussichtlich 9,3 Milliarden wachsen. Werden noch die heute  lebenden Generationen den totalen Kollaps des Planeten erleben?

Nicht die schiere Menge der Menschen ist entscheidend – es sind Armut und das mit der Weltbevölkerung wachsende Tempo der Umweltzerstörung, die den Planeten ins Trudeln geraten lassen. Weitaus gravierender als der Ressourcenverbrauch der wachsenden Bevölkerungen in der Dritten Welt ist der verschwenderische Lebensstil in den Industrieländern – und zunehmend auch in Ländern wie China, Indien und Brasilien. Chandran Nair, Gründer des „Global Institute for Tomorrow“ in Hong Kong, zeigt in einem gerade erschienenen Buch („Der große Verbrauch“) an einem Beispiel, was das bedeutet: Amerikaner essen jedes Jahr neun Milliarden Vögel. In Asien mit seiner 13 Mal höheren Bevölkerungszahl werden jährlich 16 Milliarden Vögel verspeist. Äße im Jahr 2050 jeder Asiate so viel Geflügel wie ein Amerikaner, wären das 120 Milliarden Hühner, Enten, Truthähne pro Jahr.

Aber kann man den aufstrebenden Gesellschaften den Lebensstandard verwehren, den wir in den westlichen Industrieländern selbst in Anspruch nehmen? Für den Essener Sozialpsychologen Harald Welzer ist dieses oft gebrauchte Argument „nichts anderes als eine psychologisch leicht durchschaubare Legitimation unseres idiotischen Lebensstils: Wenn alle das nachmachen, muss es richtig sein, auch wenn die Zukunft dabei draufgeht.“ Bis zum Jahr 2100 wird die Menschheit laut UN noch weiter wachsen: auf 10,1 Milliarden Menschen – vorausgesetzt, die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau sinkt von heute 2,5 auf das sogenannte Ersatzniveau: zwei Kinder pro Mutter, also der „Ersatz“ eines Paares in der nächsten Generation. Stiege sie hingegen auf den Wert 3, wüchse die Weltbevölkerung bis 2100 auf 15,8 Milliarden Menschen. Egal, welches der Szenarien wahr wird: Ein Großteil dieser zukünftigen Kinder kommt in Entwicklungsländern zu Welt – ohne Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben.

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Je größer die Mittelschichten, desto größer der Fleischverbrauch

„Die Bevölkerung wächst in den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt am schnellsten, etwa in Liberia, Niger und Uganda“, sagt Thomas Büttner, der stellvertretende Direktor der UN-Bevölkerungsabteilung: In den 20 zur Zeit am schnellsten wachsenden Ländern dürften 2100 etwa fünfmal mehr Menschen leben als heute.

Der Kampf gegen die Armut wird dadurch erheblich erschwert. Und je mehr die Mittelschichten auf allen Kontinenten – auch in Afrika – wachsen, je stärker sich das westliche Lebens- und Wohlstandsmodell überall durchsetzt, desto mehr Fleisch wird gegessen. Rinder und Schweine brauchen Weidegründe – Land, auf dem kein Getreide oder Mais angebaut werden kann. Der Wasserverbrauch steigt, Trinkwasser wird immer knapper. Und Getreide, das auch Menschen ernähren könnte, wird als Tierfutter verwendet.

Wie viele Menschen kann die Erde ernähren; wie viele können auf ihr leben, ohne dass sie im Elend vegetieren müssen? Immer mehr Menschen werden sich immer weniger Ressourcen teilen müssen – vor allem dort, wo die meisten von ihnen leben: in Afrika südlich der Sahara, in den arabischen Ländern, in Lateinamerika, in Südostasien und Südasien. Als etwa im Jahr 2008 Nahrungsmittel vorübergehend knapp wurden,  tauchte die Frage auf: Wie soll die täglich um 218  000, jährlich um 80 Millionen steigende Zahl von Hungrigen auf der Welt nur satt werden?

Bis 2015, so lautet eines der Milleniumsziele der UN, soll der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut und Hunger lebt, halbiert werden. Heute, weniger als vier Jahre vor Ablauf der Frist, leiden rund 925 Millionen Menschen Hunger. Die derzeitige Hungersnot in Somalia ist eine der schwersten seit Jahrzehnten. Doch schuld sind eher politisches Chaos, Bürgerkrieg und schlechte Verteilung des Vorhandenen als wirklicher Nahrungsmangel. Wissenschaftler wie Reiner Klingholz vom „Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ meinen, „im Prinzip“ sei Nahrung auch für zehn Milliarden Menschen da. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon beklagte kürzlich die ungleiche Verteilung von Lebensmitteln: „Wir haben für jeden genug zu essen, und doch hungern etwa eine Milliarde Menschen.“

Gute Modelle, um langfristig Ernährungssicherheit zu garantieren

Ausgerechnet dort, wo Nahrungsmittel knapp sind, sinkt die Produktion eher, als dass sie steigt – meist wegen instabiler politischer Verhältnisse. Zwar hat sich in Ländern wie Äthiopien oder Bangladesch die Nahrungsmittelversorgung verbessert. Dennoch gelten in Äthiopien noch immer 4,5 Millionen Menschen als unterernährt. Und die äthiopische Regierung verschachert fruchtbares Ackerland an ausländische Spekulanten, die das angebaute Getreide ausführen oder zu Biosprit verarbeiten. Gleiches geschieht im Sudan und in Kenia. Trotz regionaler Überschüsse ist die Zahl der Hungerländer auf der Liste der Welternährungsorganisation FAO weiterhin groß. Nicht nur gescheiterte afrikanische Staaten wie Eritrea und Somalia zählen dazu. Auch in Pakistan oder Afghanistan hungern Menschen. Solche politisch labilen Länder sind oft jene, in denen auch die Bevölkerung am schnellsten wächst.

Zwar gibt es immer wieder einmal neue Ideen zur Ernährungssicherung, wie etwa die des „Vertical Farming“: Sie sieht vor, Getreide und Gemüse in Hochhäusern bei künstlicher Beleuchtung anzubauen. Die Verfechter behaupten, so ließen sich klimaunabhängig zehn Milliarden Menschen ernähren – bisher ungelöst ist allerdings das Problem der dafür benötigten riesigen Energiemengen. Doch die Lösung muss auch nicht in großtechnischen Zukunftsszenarien liegen: Schon heute habe die Welt „alle Ressourcen und Techniken, um Hunger zu beseitigen und langfristig Ernährungssicherheit für alle herzustellen“, erklärt die Welternährungsorganisation FAO in ihrem Bericht „Wie die Welt im Jahr 2050 ernährt werden kann“. Nötig sei es dafür nicht nur, die Produktion zu erhöhen und neue landwirtschaftliche Nutzflächen in Entwicklungsländern zu erschließen, sondern auch, Kleinbauern durch mehr Bildung, bessere Sozialsysteme und erleichterte Marktzugänge zu stärken ­– und die Konkurrenz durch den Anbau von Biotreibstoffen einzudämmen.

Und Olivier de Schutter, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, plädiert für einen massiven globalen Umbau hin zu ökologischer Landwirtschaft: Vielerorts ließen sich die Erträge so verdoppeln. „In 44 untersuchten Projekten in Afrika südlich der Sahara“, erklärt de Schutter, „stiegen die Ernten durch die Umstellung auf agrar-ökologischen Landbau um 214 Prozent in einem Zeitraum von drei bis zehn Jahren.“ In Tansania etwa seien 350  000 Hektar erodiertes Land mit nachhaltigen Anbaumethoden wieder landwirtschaftlich nutzbar gemacht worden – ein „spektakulärer“ Erfolg.

Anders als in apokalyptischen Szenarien, auch von ernstzunehmenden Wissenschaftlern immer wieder ausgemalt, ist die wachsende Zahl der Menschen bislang nicht durch wiederkehrende Hungersnöte dezimiert worden. Eher schon hat der HIV-Erreger in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten in Teilen Afrikas annähernd die Rolle übernommen, die die Pest im Mittelalter in Europa spielte: zwar nicht große Landstriche zu entvölkern, aber doch die mittlere Generation stark zu dezimieren.

Je länger Frauen zur Schule gehen, desto weniger Kinder gebären sie

Die Ausbreitung von AIDS einzudämmen, ist ein mehr als erwünschter Nebeneffekt von Familienplanungs- und Bildungsprogrammen. Vor allem aber sollen diese, gerade im südlichen Afrika und in Südasien, dazu führen, dass das Bevölkerungswachstum allmählich gebremst wird. Bis zur Mitte des Jahrhunderts werden in Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich mehr als zwei Milliarden Menschen leben, doppelt so viele wie heute. „Viele Frauen bekommen dort mehr Kinder als sie sich wünschen, da ihnen oft das Wissen über wirksame Verhütungsmittel fehlt oder sie keine Möglichkeit haben, diese zu erhalten“, betont Renate Bähr, Geschäftsführerin der „Deutschen Stiftung Weltbevölkerung“.

Unter Bevölkerungswissenschaftlern ist unumstritten: Jedes Jahr, das junge Frauen länger zur Schule gehen, reduziert die Kinderzahl. Familienplanung lässt sich nicht auf Geburtenkontrolle begrenzen, Pille und Kondome allein sind keine Medizin gegen das Bevölkerungswachstum. Die Entscheidungsfreiheit und die Wünsche von Frauen und Paaren müssen respektiert werden, staatlicher Zwang zu nur einem Kind wie in China ist nur in totalitären Gesellschaften durchsetzbar (und auch dort nicht umfassend).

Wenn Rechte und Selbstbestimmung von Frauen in armen Ländern gestärkt werden, Frauen also selbst entscheiden können, wie viele Kinder sie bekommen wollen, wenn ihre Bildungschancen sich weiter verbessern und das Gesundheitswesen in der Dritten Welt weiter ausgebaut wird, so besteht begründete Hoffnung, dass die Menschen dort in einigen Jahrzehnten weniger Kinder bekommen. Und dass diese unter besseren Bedingungen leben können. Dass mit der richtigen Politik der Teufelskreis von hohem Bevölkerungswachstum und Armut durchbrochen werden kann, zeigt das Beispiel des südindischen Bundesstaats Kerala: Dort konnte durch wirksame Alphabetisierungspolitik die Geburtenrate deutlich unter den nationalen Durchschnitt gesenkt werden. Und Mauritius hat durch Bildungs- und Gesundheitsinvestitionen sein jährliches Bevölkerungswachstum von vier auf 0,8 Prozent gesenkt.

Die „herannahende ökologische Katastrophe“ indes, von der 1992 Nafis Sadik sprach, ist nach wie vor eine reale Möglichkeit. Sie wird aber eher den Bewohnern der reichen Länder des Nordens mit ihren wenigen Kindern, vielen Autos und ihrem umfassenden Raubbau an der Erde geschuldet sein als den Habenichtsen im Süden und ihren Kindern.

Zum Text
Für den Text – erschienen in natur 10/2011 – erhielt Cord Aschenbrenner im März 2012 den Journalistenpreis der Stiftung Weltbevölkerung.

Bild: Fotolia.

© natur.de – natur Redaktion
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