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Durch die Urwälder Brasiliens: Karapirus unglaubliche Geschichte

Von Flucht, Einsamkeit und unerwartetem Wiedersehen

Durch die Urwälder Brasiliens: Karapirus unglaubliche Geschichte
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Als Geologen im Norden Brasiliens vor 45 Jahren riesige Erzvorkommen entdeckten, begann das Leiden der Menschen vom Volk der Awá. Dies ist die Geschichte von Karapiru, der fast seine ganze Familie verlor und mit Bleikugeln im Rücken einem Massakar entkam. Zehn Jahre irrte er umher, dann geschah Wunderbares. Von Joanna Eede (Survival International)

Die Lebensgrundlage der etwa 460 Awá sind Pekari, Tapire und Affen, die sie auf Streifzügen durch den Regenwald mit bis zu zwei Meter hohen Bögen jagen, und Walderzeugnissen wie Babaçu-Nüsse, Açaí-Beeren und Honig. Die Awá ziehen verwaiste Jungtiere auf, teilen ihre Hängematten mit Nasenbären und ihre Mangos mit grünen Papageien. Viele Awá-Frauen stillen sogar verwaiste Kapuziner- und Brüllaffen und manchmal sogar junge Wildscheine.

Seit Jahrhunderten basierte der Lebensstil der Awá auf einer Symbiose mit dem Regenwald. Doch dann mussten sie innerhalb von nur vier Jahrzehnten die Zerstörung ihrer Heimat mitansehen – mehr als 30 Prozent ihres Gebietes wurden dem Erdboden gleich gemacht – und den Mord an ihren Angehörigen durch Karai, „nicht-Indianer“ erleben. Heute sind die Awá nicht nur eines der letzten Jäger und Sammler-Völker Brasiliens, sie sind auch das bedrohteste Volk der Erde.

Karapirus Geschichte beginnt mit einer zufälligen Entdeckung vor 45 Jahren. Damals führten amerikanische Geologen aus der Luft eine Bestandsaufnahme der mineralischen Rohstoffe der Region durch. Als ihr Helikopter auftanken musste, entschied sich der Pilot, auf einem kahlen Gipfel der Carajás-Berge zu landen. Ein Geologe soll sofort eine Ansammlung von schwarz-grauen Steinen am Boden bemerkt und als Erz erkannt haben, aus dem Eisen gewonnen werden kann. In der Tat enthielt der Boden unter seinen Füßen das, was eine Fachzeitschrift später als „eine dicke Schicht von Jaspilit und Linsen von hartem Hämatit“ beschrieb. Kurzum, die Geologen waren soeben auf das größte Erzvorkommen unseres Planeten gestoßen.

Diese Entdeckung führte zur Geburt des Grande Carajás Projekt, einem agro-industriellen Programm, das von den USA, Japan, der Weltbank und der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft finanziert wurde. Das Projekt umfasste einen Staudamm, Aluminiumhütten, Kohlelager und Viehweiden. Asphaltierte Straßen zerstörten weite Teile des Primärwaldes und eine Bahnstrecke entstand, die auf ihrem 900 Kilometer langen Verlauf von der Mine zur Küste durch das Gebiet der Awá schnitt. Das industrielle Prunkstück des Projektes war eine Kluft im Waldboden, so gigantisch, dass sie aus dem Weltall zu sehen ist. Mit den Jahren wuchs sie zum größten Tagebau der Welt heran

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Das Grande-Carajás-Projekt war für Umwelt und indigene Bevölkerung fatal, obgleich die Geldgeber im Tausch für den Milliarden Dollar-Kredit von der brasilianischen Regierung eine Zusage zur Erfassung und zum Schutz indigener Gebiete gefordert hatten. Doch das Geld lockte bald Viehzüchter, Siedler und Holzfäller in die Region. Riesige Bagger zerfurchten das Land und fraßen sich durch Boden und Gestein, um an das Erz, an Bauxit und an Mangan zu gelangen. Die Flüsse wurden vergiftet, uralte Bäume gefällt und verbrannt. Die schwarze Holzkohlenasche überzog das satte Grün des Blattwerks: Harakwá wurde zu einer verschmutzen, vernarbten und schlammigen Hölle.

Copyright-Survival-International.jpgFür die „Schatzsucher“ waren die Awá nichts weiter als ein Hindernis, ein primitives Ärgernis, das zusammen mit den Bäumen verschwinden sollte. Die Awá standen zwischen ihnen und den Dollarnoten, die die Felsen freigeben würden. Also machten sie sich daran die Awá zu töten.

Einige waren erfinderisch bei ihren Gräueltaten: Mehrere Awá starben, nachdem sie mit Ameisengift versetztes Mehl gegessen hatten, das „Geschenk“ eines lokalen Farmers. Andere, wie Karapirus Familie, wurden erschossen – zuhause, vor den Augen ihrer Angehörigen. Karapiru glaubte, dass er als Einziger seiner Familie ein solches Massaker überlebt hatte. Die Mörder hatten seine Frau, seinen Sohn, seine Tochter, Mutter, Schwester und seinen Bruder getötet. Ein weiterer Sohn wurde verwundet und gefangen genommen.

Traumatisiert entkam Karapiru in den Wald, mit Bleikugeln in seinem unteren Rücken. „Es gab keine Möglichkeit die Wunde zu versorgen. Ich konnte keine Medizin auf meinen Rücken auftragen und ich musste sehr leiden“, berichtete Karapiru später. „Das Blei brannte in meinem Rücken, es blutete. Ich weiß nicht wie ich es geschafft habe, nicht von Insekten befallen zu werden. Doch ich konnte den Weißen entkommen.“

Für mehr als zehn Jahre war Karapiru auf der Flucht. Er legte über 600 Kilometer zurück, durchquerte die Berge und Täler in Maranhãos Wäldern, die Dünen der Restingas und die breiten Flüsse, die in den Atlantik münden. Er hatte Angst, war hungrig und allein. „Es war sehr hart“, erzählte er Fiona Watson von Survival International. „Ich hatte keine Familie die mir helfen konnte und niemandem zum Reden.“

Er überlebte von kleinen Vögeln wie Papageien, Tauben und Rotbauchdrosseln. Nachts, wenn die Brüllaffen in den Baumkronen riefen, schlief er hoch in den Ästen von riesigen Kopaivabäumen, zwischen Orchideen und Rattan. Und manchmal, wenn Trauer und Einsamkeit überwältigend waren – „manchmal mag ich mich nicht an all das erinnern, was mir zugestoßen ist“ – redete er leise mit sich selbst oder summte beim Gehen vor sich hin.

Mehr als ein Jahrzehnt nachdem er den Mord an seiner Familie miterleben musste, wurde Karapiru von einem Farmer am Rande einer Stadt im Nachbarstaat Bahia gesehen. Er lief durch ein Stück verbrannten Wald, mit einer Machete, ein paar Pfeilen, Wasserbehältern und einem Stück geräucherten Wildschein über seinen Schultern. Sie grüßten sich. Karapiru folgte dem Farmer zurück in das Dorf, wo er bei einem Mann im Tausch gegen Hilfe beim Holzfällen einen Unterschlupf fand. Die Meldung, dass ein einsamer und „unbekannter“ Indianer, dessen Sprache niemand verstand, aus dem Wald aufgetaucht war, machte bald die Runde.

Karapiru war über zehn Jahre vor allem geflohen, außer vor seinem Kummer. „Es war sehr traurig“, erinnert sich Karapiru. Doch genauso wenig wie „Falke“ die langen Jahre des Leids vorhersehen konnte, konnte er mit der Freude rechnen, die ihn bald ereilen sollte.

Der Farmer gab ihm im Tausch gegen kleine Arbeiten ein Dach über dem Kopf und Essen, das Karapiru noch nie zuvor probiert hatte: Maniok, Reis, Mehl und Kaffee. Es schmeckte ihm. „Es war köstlich! Ich nahm immer wieder davon – es ist gut!“ Er lernte auch ein wenig über die Lebensweise der Karai, der Weißen, und erfuhr, dass sein Gastgeber Vieh hielt und in einem Bett schlief, das Karapiru selbst sehr unbequem fand.

Nachdem sich die Neuigkeit verbreitet hatte, dass ein einsamer Indianer aus dem Regenwald aufgetaucht war, besuchte ein Anthropologe das Dorf. Karapiru versuchte ihm seine Geschichte zu erzählen und berichtete, wie er den Mord an seiner Familie gesehen hatte, dass er ein Jahrzehnt in Stille verbracht hatte, und dass er nun der einzige seines Volkes war, der noch am Leben war.

Survival-Inter-3.jpgAllerdings konnte der Anthropologe Karapirus Sprache nicht verstehen. Er glaubte aber, dass Karapiru eine Sprache aus der Tupi-Sprachgruppe sprechen würde und dass er vielleicht ein Mitglied der Avá Canoeiro sei. Daraufhin schickten Mitarbeiter der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI Karapiru in die Hauptstadt Brasilia. Dort wurde er Menschen vorgestellt, die die Sprache der Avá Canoeiro beherrschten, in der Hoffnung, dass sie einander verstehen würden. Doch sie verstanden sich nicht. In einem letzten Versuch mit Karapiru zu kommunizieren, schickte FUNAI einen jungen Awá namens Xiramukû, um mit dem Mann zu sprechen, der inzwischen der „unbekannte Indianer“ genannt wurde.

Das Treffen wurde zu einem Moment, von dem Karapiru in den Jahren seiner Trauer und Einsamkeit nicht zu träumen gewagt hatte. Nicht nur konnte Xiramukû seine Sprache verstehen, er nutzte auch ein Awá-Wort, dass Karapirus Leben mit einem Schlag veränderte: Er nannte ihn „Vater“. Der junge Mann, der vor Karapiru stand und mit ihm in seiner Sprache redete, war sein Sohn.

Xiramukû überzeugte seinen Vater, das Haus des Farmers zu verlassen und mit ihm in einem Awá-Dorf zu leben. Nach Jahren der Isolation lebte Karapiru wieder wie ein Awá: Er aß Pekari, der im Regenwald gejagt wurde, schlief wieder in einer Hängematte und hielt Affen als Haustiere. Inzwischen ist Karapiru wieder verheiratet, hat weitere Kinder und lebt in der Nähe seines Sohnes in dem Awá-Dorf Tiracambu. „Ich fühle mich wohl hier mit den anderen Awá“, sagt er. „Ich habe nach vielen Jahren meinen Sohn wieder gefunden. Ich erkannte meinen Sohn, was mich sehr glücklich machte.“

Karapirus unglaubliche Überlebensgeschichte zeigt, wie unzerstörbar und anpassungsfähig die Awá sind. Doch ihre Probleme sind nicht auf die Vergangenheit beschränkt. Bewaffnete Viehzüchter und kriminelle Holzfällerbanden, gemeinsam mit der Hilfe skrupelloser Pistoleiros, bringen die Awá erneut in die tödliche Schusslinie. „Das Eindringen der weißen Menschen in das Territorium der Awá ist nicht gut“, sagt Karapiru. „Wir wollen das nicht. Nachdem was mir passiert ist, versuche ich mich vor ihnen zu verstecken.“ Tod ist der traurige Preis des Widerstandes der indigenen Bevölkerung gegen die Eindringlinge.

Die Wälder der Awá verschwinden schneller als jedes andere indigene Gebiet in der brasilianischen Amazonasregion. „Satellitenaufnahmen zeigen, dass über 30 Prozent des Territoriums der Awá bereits zerstört ist, obwohl das Land inzwischen rechtlich geschützt ist“, sagt Fiona Watson von Survival International.

Das Land, sie nennen es Harakwá („unser Ort“), ähnelt immer mehr einem post-apokalyptischen Ödland. Rund um die Uhr brennen die uralte Bäume, um Holz zu gewinnen und Land für Viehweiden zu öffnen. „Wenn man den Wald zerstört, zerstört man auch die Awá“, beschreibt es ein Awá.

Die bis zu zwei Kilometer langen Züge der Carajás-Mine rütteln Tag und Nacht über die Gleise, um Tausende Tonnen Eisenerz zu transportieren. Dabei verscheuchen sie das ohnehin schon wenige Wild, von dem die Awá leben. „Die Holzfäller zerstören unseren Wald“, erklärte der Awá Pire’i Ma’a erst kürzlich gegenüber Fiona Watson. „Die Affen, Pekari und Tapire laufen alle davon. Alles stirbt. Wir werden alle hungern. Wir finden kein Wild, weil die weißen Menschen Waffen benutzen und alles Wild töten.“

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Anmerkung
2012 startete Survival International eine Kampagne, um das Leben und das Land der Awá zu schützen. Unterstützt wurde Survival vom Schauspieler Colin Firth, der sagte: „Ihr Wald wird illegal gerodet. In großem Stil. Wenn Holzfäller auf die Awá treffen, töten sie sie. Pfeil und Bogen haben gegen Gewehre keine Chance. Und an jedem anderen Punkt in der Geschichte wäre es das gewesen. Wieder wäre ein Volk für immer vom Erdball verschwunden. Aber wir werden diesmal dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt.“ Doch auch fast ein Jahr später ist die Situation noch immer so ernst, dass ein brasilianischer Richter die Lage als „echten Genozid“ beschrieb.

Für Karapiru sind die Erinnerungen immer noch sehr schmerzhaft. „Es gibt Zeiten, wenn ich mich nicht an all das erinnern will, was mir zugestoßen ist“, sagt er. „Die Menschen die mir das antaten, waren sehr schlechte Menschen.“ Heute ist Karapiru sehr besorgt um die Zukunft seiner Tochter. „Ich hoffe, dass das gleiche nicht auch meiner Tochter passiert“, sagt er. „Ich hoffe, sie wird viel Wild und viel Fisch essen können und zu einer gesunden Frau heranwachsen. Ich hoffe, es wird nicht so sein wie zu meiner Zeit.“

Die Awá sind eines von nur zwei verbliebenen nomadischen Jäger und Sammler-Völkern in Brasilien. Sie sind auch das bedrohteste Volk der Erde. Ihre Zukunft ist bestenfalls unsicher. Und bis ihr Land geschützt und ihre Rechte respektiert werden, wird sich dies nicht ändern.

Joanna-Eede.jpgZur Autorin
Joanna Eede ist Mitarbeiterin von Survival International. Sie schreibt Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften, darunter „Huffington Post“, „The Atlantic“ und „National Geographic“.

Fotos: Copyright: Survival International.
Foto links: privat

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