Weidetiere der südamerikanischen Anden machen meist nur einmal den Fehler: Berührt ihre Zunge die winzigen Haare eines Blumennesselgewächses (Loasaceae), dann brechen die Spitzen der Brennhaare ab und eine Substanz sorgt für Scherzen. „Der Mechanismus bei den uns vertrauten Brennnesseln funktioniert ganz ähnlich“, sagt Maximilian Weigend von der Universität Bonn.
Doch wie er und seine Kollegen nun festgestellt haben, gibt es zwischen den entfernten Verwandten einen faszinierenden Unterschied: Während die spitzen Härchen unsere Brennsesseln glasartiges Silizium härtet, ist es bei ihren südamerikanischen Kollegen ein Material, das bisher nur von den Knochen und Zähnen von Tieren bekannt war: Kalziumphosphat. „Die Mineralien in den Brennhaaren sind chemisch den Zähnen von Mensch und Tier sehr ähnlich“, sagt Weigend. „Es scheint so zu sein, dass Blumennesseln mit gleicher Münze heimzahlen: Zähne gegen Zähne“, schmunzelt der Botaniker.
Zahn-Baustoff für pflanzlichen „Stahlbeton“
Durch elektronenmikroskopische Untersuchungen erforschten er und seine Kollegen bis ins Detail den Feinbau der Brennhaare, die einer Injektionsspritze gleichen. Das Kalziumphosphat verstärkt deren Spitzen, und ist in andere Stoffe raffiniert eingebettet, zeigten die Untersuchungen. „Es handelt sich dabei um ein Kompositmaterial, das ähnlich wie Stahlbeton aufgebaut ist“, erklärt Weigend. Das typische Baumaterial von Pflanzen – die faserartige Cellulose – bildet dabei ein formgebendes Geflecht, in dessen „Maschen“ die winzigen Kristalle aus Kalziumphosphat eingelagert sind. „Das verleiht den Brennhaaren eine ganz außerordentliche Stabilität“, so der Wissenschaftler.
Potenzial für die Medizin
Die raffinierten Eigenschaften des Materials wecken nun nicht nur das Interesse von Botanikern. In der Entdeckung könnte auch Potenzial für sogenannte bionische Anwendungen stecken: „Bei Ersatzmaterial etwa für den Zahnersatz, die Orthopädie oder die Gesichtschirurgie kommt es sehr darauf an, dass es keine Abstoßungsreaktionen auslöst“, sagt Weigend. Das Kalziumphosphat-Cellulose-Komposit der Blumennesseln könnte ein vielversprechendes natürliches Vorbild für solche Zwecke sein. Zunächst einmal wollen sich Weigend und seine Kollegen aber nun der Frage widmen, welche Pflanzen ebenfalls Kalziumphosphat nutzen, um sich zu wappnen und welche biomechanischen Vorzüge das Material im Detail hat.
Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn