Die Ostantarktis galt bisher immer als Bollwerk gegen die Eisschmelze. Denn der bis zu 4.000 Meter dicke Eisschild schien im Gegensatz zum dünneren und labileren Eis der Westantarktis sehr stabil. Zudem ist es im östlichen Hochland extrem kalt, dort liegt auch der Kältepol der Erde. Selbst an der Küste liegen die Lufttemperaturen meistens weit unter dem Gefrierpunkt.
Als Forscher vor zwei Jahren ein gewaltiges Loch im Roi Baudouin-Schelfeis in der Ostantarktis entdeckten, hielten sie ihn daher zunächst für die Einschlagsstelle eines großen Meteoriten. Doch Jan Lenaerts von der Universität Utrecht gab sich damit nicht zufrieden. Im Januar 2016 besuchte er gemeinsam mit Kollegen den seltsamen Krater im Schelfeis erneut und untersuchte ihn erstmals genauer.
Schmelztrichter statt Meteoritenkrater
Es zeigte sich: Es handelt sich bei diesem Loch im Eis keineswegs um einen Meteoritenkrater, sondern um eine Eisdoline. “Sie entsteht, wenn sich Schmelzwasser im Inneren oder nahe der Oberfläche eines Gletschers ansammelt”, erklärt der Glaziologe Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI).
An der Oberfläche gefriert dieser Schmelzwassertümpel zwar, darunter aber fließt das Wasser nach unten durch das Schelfeis in das darunterliegende Meer ab. “Dadurch entsteht im Gletscher ein Hohlraum, dessen Decke irgendwann einstürzt”, erklärt der Glaziologe. Aus Grönland und von den Schelfeisen der Westantarktis kennt man solche Trichterbildungen schon seit den 1930er Jahren. Für die Ostantarktis ist dieses mit der Eisschmelze verknüpfte Phänomen aber neu.
Bei ihrer Expedition entdeckten die Forscher zudem, dass es im ostantarktischen Schelfeis viele verborgene Schmelzwasserseen gibt. Einige von ihnen haben mehrere Kilometer Durchmesser. Im Schelfeis befinden sich zudem viele bisher nicht bekannte Schmelzwasser-Flüsse.
Starke Winde fördern Schmelze
Ursache dieses unerwarteten Abtauens in der kalten Ostantarktis sind offenbar starke Winde, die vom antarktischen Inlandeises hinunter Richtung Küste wehen. Dort treffen sie am Fuß der Küstengebirge auf das flache Schelfeis und werden dadurch verwirbelt. Das führt dazu, dass der auf dem Eis liegende und isolierende Schnee kontinuierlich weggeweht wird. “Das dadurch teilweise offen liegende feste Eis ist dunkler als der weiße Schnee und absorbiert folglich mehr Sonnenenergie – die Oberfläche wird stärker erwärmt”, erklärt Eisen. Dadurch taut das Schelfeis der Ostantarktis stärker als bisher erwartet.
“Insgesamt scheint das System über die vergangenen Jahrzehnte zwar stabil gewesen zu sein”, sagt Eisen. “Aber es ist eben deutlich empfindlicher als bisher bekannt. Das heißt, eine kleine Störung des Systems könnte bereits große Auswirkungen haben.” Werden die polaren Sommer noch wärmer, könnte sich Schmelzfläche ausweiten. Das Schelfeis würde instabiler und könnte schließlich auseinanderbrechen. “Dies ist noch kein Horrorszenario, aber eine ernst zu nehmende Beobachtung”, meint Eisen.
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Fachartikel: Nature Climate Change, doi: 10.1038/nclimate3180