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Wildnis aus Menschenhand

Der Schweizerische Nationalpark

Wildnis aus Menschenhand
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Schweizerischer Nationalpark_Roland Gerth
Dieses Jahr feiert der Schweizerische Nationalpark seinen 100. Geburtstag. Seit 1914 hat dort die Natur das Kommando übernommen. Wie sich Tiere und Pflanzen das Gebiet im Kanton Graubünden zurückeroberten, dürfte die Begründer allerdings enttäuscht haben. Eine Gastreportage von Urs Fitze vom alpenmagazin.org

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Die Vision wurde nach einem zustimmenden Parlamentsbeschluss am symbolträchtigen 1. August 1914 Wirklichkeit. Der damals postulierte „Totalschutz“, hinter dem die Utopie einer Natur stand, die ohne Einfluss des Menschen allmählich zu ihrem Urzustand zurückkehren werden, ließ sich nicht dauerhaft halten: So kamen etwa die ausgerotteten Steinböcke nicht einfach von selbst zurück, sondern wurden wieder angesiedelt, während bei den sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasant vermehrenden Rothirschen selbst innerhalb des Parks zeitweise Hegeabschüsse angeordnet wurden, um Massensterben nach strengen Wintern und Verbissschäden vorzubeugen. Sie sollten sich als unnötig erweisen. Die Hirsche haben ihre Populationsprobleme auch ohne Raubtiere im Park selbst gelöst.

Der Wald lässt auf sich warten

Konsequenterweise ist heute vom Prozessschutz die Rede: Die natürlichen Abläufe sollen sich im Nationalpark ungehindert entfalten. Das bedeutet aber auch, Entwicklungen, die man sich vielleicht nicht wünschen würde, zuzulassen. So haben sich auf den Brachflächen eines verheerenden Brandes von 1951 Gräser behaglich eingerichtet, während kein Baum mehr gewachsen ist, und die Wiederbewaldung der ehemaligen Weideflächen dürfte, wie eine WSL-Hochrechnung zeigt, noch 500 bis 600 Jahre dauern. Der Mensch soll, so will es das Bundesgesetz über den Schweizerischen Nationalpark, dauerhaft nur interessierter Beobachter bleiben, sei es als Forscher, sei es als Gast auf den Wanderwegen.

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Der „Atlas des Schweizerischen Nationalparks. Die ersten 100 Jahre“ erlaubt einen Blick auf das gesammelte Wissen, das sich dank eines schon vor zwei Jahrzehnten etablierten Geographischen Informationssystems auch vorzüglich kartographisch vermitteln lässt. Von den Wanderbewegungen der Hirsche über die erstaunliche emotionale Verwandtschaft zwischen Motorradfahrern und Wanderern, die gleichermaßen das Naturerlebnis suchen, bis zur Fiederzwenke, einer sich geduldig über viele Jahrzehnte ausbreitenden Grasart, die zur Bedrohung der Artenvielfalt werden könnte, lassen sich aus der riesigen Datenfülle wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Seit zwei Jahrzehnten rückt der wissenschaftliche Fokus vom Beobachten und Beschreiben des natürlichen Geschehens allmählich hin zur Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Experimenten.

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Anita Risch hatte sich während ihrer Feldarbeiten im Nationalpark schon öfters gefragt, welche Rolle neben den Hirschen eigentlich Kleintiere und Insekten als Pflanzenfresser spielen. Waren die vielen Ameisenhaufen und die Murmeltierkolonien, um die sich gleichermaßen ein Rasenteppich ausbreitete, nicht auch ein ernst zu nehmender Faktor im Geschehen rund um die seit einem Jahrhundert andauernde Renaturierung der Alp Stabelchod?

Nach einem sehr aufwendigen fünfjährigen, 2013 abgeschlossenen Feldexperiment, bei dem auf Probeflächen mit einem ganzen Netz von Umzäunungen, die nach und nach alle Protagonisten ausschlossen, zuerst den Hirsch, dann das Murmeltier, die Mäuse und schließlich die Insekten, zeigte sich Erstaunliches: Nur die Hälfte der Biomasse verzehren die Hirsche. Für die andere Hälfte zeigen die Insekten verantwortlich, während Murmeltiere und Mäuse nur eine Randrolle spielen. Die noch unpublizierten Ergebnisse sind von internationaler Bedeutung. Denn so viel man heute weiß über die grundlegenden Funktionen von Ökosystemen, so wenig ist bekannt über die gegenseitige Beeinflussung der Lebewesen etwa auf einer Weide.

Im Park sind die Menschen in der Minderheit

Der eine oder andere Wanderer mag sich wundern über die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, für die das strikte Wegegebot im Nationalpark anscheinend nicht gilt. Doch sie sind nur Gäste auf Zeit, ausgestattet mit einer Sonderbewilligung der Forschungskommission des Nationalparks. Die einzigen Menschen, die sich frei im Nationalpark bewegen dürfen, sind die acht Parkwächter und andere Mitarbeiter der Parkverwaltung. Es ist ein begehrter Job, wie jeweils Dutzende von Bewerbungen aus der Region zeigen, wenn eine der Stellen frei wird. Bis zu zehn Stunden täglich ist Not Armon Willy, Parkwächter seit 1995, unterwegs im Park, jeden Tag in einem anderen Gebiet. Er beobachtet und notiert das Geschehen in der Natur, arbeitet mit bei verschiedenen Forschungsprojekten, tauscht sich mit Parkbesuchern aus – und hält die Einsamkeit aus, vor allem an Schlechtwettertagen oder im Winter, wenn der Nationalpark seine Tore ganz geschlossen hält und nur noch die Parkwächter, meistens auf Skiern, durchs Gelände ziehen.

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Ihre Funktion als Wächter nehmen Willy und seine Kollegen auch wahr, wenn sie Wilderern auf der Spur sind oder Besucher mit Geldstrafen belegen oder anzeigen müssen, die etwa das strikte Weg- und Hundeverbot missachten. Das kommt seltener vor, als man denkt. Den wenigen Dutzend Bussen pro Jahr stehen 150.000 Besucherinnen und Besucher gegenüber. Drei Viertel von ihnen sind als Feriengäste in der Region. Das zeigt die hohe Akzeptanz des Nationalparks beim breiten Publikum. Jeder zehnte Gast etwa kommt aus der Westschweiz, die Besucherzufriedenheit erreicht phänomenale Werte. Dazu trägt auch das 2008 neu eröffnete Nationalparkzentrum bei.

Die lokale Bevölkerung habe ein gespaltenes Verhältnis zum Nationalpark, sagt Not Armon Willy, der in Guarda lebt. So strikt, wie das Nein zu den Erweiterungsplänen im Jahr 2000 in Zernez war, so groß sei das Bekenntnis zum Nationalpark in den bestehenden Grenzen. Die Vorbehalte richten sich nicht gegen den Naturschutz an sich, sondern, wie Willy sagt, gegen einen weiteren Ausbau. „Jetzt sind andere gefordert.“

Das spielt an auf die beiden Nationalparkprojekte Adula und Locarnese, die sich in der sogenannten Errichtungsphase befinden. Das heißt: Es wird konkreter, erste Gelder sind gesprochen, auf allen Ebenen laufen die Vorbereitungen. Das letzte Wort hat aber das Volk, und niemand würde heute eine Prognose wagen, ob sich eine Mehrheit findet.

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Eines hält die mit der Teilrevision des Natur- und Heimatschutzgesetzes und der Parkverordnung 2007 beschlossene Parkpolitik des Bundes klar fest: Der Impuls für neue Parks muss aus den Regionen selbst kommen. Der Bund figuriert als Zertifizierungsstelle und unterstützt die Parks auch finanziell. Das gilt sowohl für die regional ausgerichteten Natur- und Naturerlebnisparks, von denen inzwischen 15 etabliert sind, als auch neue Nationalparks.

Ein Naturheiligtum in der Schweiz

Anders als beim Nationalpark, der als Reservat der Kategorie I a (Wildnisgebiet) der höchsten Schutzklasse der Internationalen Naturschutzunion angehört, werden künftige Nationalparks in der Kernzone zur Kategorie II zählen. Das sind Schutzgebiete, die hauptsächlich zum Schutz von Ökosystemen und zu Erholungszwecken verwaltet werden. Die Umgebungszonen zählen, wie die Regionalen Naturparks, zur Kategorie V. Ein Vergleich mit dem bestehenden Nationalpark hinkt deshalb trotz gleicher Benennung beträchtlich. Eher müssen andere Nationalparks im Alpenraum, etwa Hohe Tauern oder Berchtesgaden, herangezogen werden, die sich nach Anfangsschwierigkeiten heute beide einer hohen Akzeptanz bei lokaler Bevölkerung und Besuchern erfreuen.

Der Schweizerische Nationalpark schwebt erhaben über diesen Diskussionen. Er ist längst zum Naturheiligtum geworden, ein Schutzgebiet, das seine Gründer bis heute ehrt. Nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern wird – auch wenn in hundert Jahren noch immer kein Wald die Alp Stabelchod bedecken dürfte. Der Historiker Patrick Kupper zeigt in seinem im Haupt-Verlag erschienenen Werk „Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks“, wie aus einem „für alle Zeiten der Natur geweihtem Refugium der Moderne“ ein Wildnisgebiet als Ergebnis eines historischen, vom Menschen gestalteten Prozesses wurde. Aus dieser Warte wird der Nationalpark selbst zum Experiment, das noch längst nicht abgeschlossen ist.

Die Reportage ist im Alpenmagazin erschienen.

Mehr zum 100-jährigen Jubiläum des Nationalparks finden Sie hier

Zum Autor

Urs Fitze ist freier Journalist, Redakteur beim Alpenmagazin und Mitbegründer des Pressebüros Seegrund in St. Gallen.

Fotos: Roland Gerth/Alpenmagazin

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