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„Wir brauchen mehr Regeln“

Die Tücken beim Artenschutz

„Wir brauchen mehr Regeln“
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Großer Brachvogel
Arten, deren Lebensraum wir zerstören, sterben nicht von heute auf morgen aus. Eine neue Studie zeigt: Es dauert häufig viele Jahrzehnte. Welche Gefahren diese Erkenntnis birgt, erklärt der Biologe Ingolf Kühn.

Fotolia_31776304_S.jpgnatur: Herr Kühn, die wirtschaftliche Entwicklung wirkt sich auf die Artenvielfalt aus. Diese Erkenntnis klingt banal. Trotzdem gibt es bisher kaum Studien zu dieser These. Zusammen mit Ihrem Team haben Sie nun eine Studie vorgelegt. Worum ging es Ihnen ?

Ingolf Kühn: Wir wollten wissen, warum die Roten Listen immer länger werden – ein Trend, der sich in 40 Ländern in Europa beobachten lässt. Warum gelten also immer mehr Tiere und Pflanzen als bedroht? Das Ergebnis hat uns überrascht und erschreckt. Wir hatten angenommen, dass sich der Artenschwund aus aktuellen Wirtschaftsdaten ersehen lässt. Wir dachten: Wenn man weiß, wie groß die heutige Bevölkerungsdichte ist, wenn man sich das Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf anschaut und die Landnutzung in Augenschein nimmt, dann wird klar, unter welchem Druck die Artenvielfalt steht.

Aber das war ein Trugschluss …

Ja, denn die aktuellen Roten Listen lassen sich viel besser aus den Wirtschaftsdaten von 1950 oder sogar von 1900 erklären. Wir haben für die Studie ein gängiges statistisches Verfahren verwendet: Dabei kann man die Zahl der Rote-Liste-Arten eines Landes mit den Daten in Beziehung setzen. Am Ende war klar: Die Modelle mit den früheren Zahlen haben zum Teil weitaus mehr erklärt als die aktuellen.

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Wie kommt das?

Es gibt etliche langlebige Arten, die noch überleben, selbst wenn ihr Lebensraum schon weiträumig zerstört ist, etwa weil häufiger gemäht wird. Ich denke an Arten wie den Großen Brachvogel, der auch auf Maisäckern lebt, die mit Pestiziden gedüngt werden. Er kann dort leben, aber seine Nachkommen schaffen es nicht mehr. Oder mehrjährige Pflanzen wie das Frühlings-Adonisröschen oder viele Orchideenarten, die auf den verbliebenen Resten früherer Grünländer gedeihen; sie blühen noch, werden auch noch bestäubt, aber produzieren irgendwann keine Samen mehr.

Aber warum zieht sich das Aussterben über Jahrzehnte hin?

Weil die Lebensräume nur sehr langsam kleiner werden. Man knapst mal hier was ab, mal dort. Viele Arten gelangen auf eine Rote Liste, weil Böden trockengelegt werden – zum Beispiel Blumen wie Arnika oder Herbstzeitlose. Andere, weil immer mehr Saatgut von unerwünschten Unkrautsamen gereinigt wird, wie die Kornrade, die zur Familie der Nelken gehört. Für die Artenvielfalt ist die Landwirtschaft das große Problem, denn die macht den größten Teil der Flächennutzung aus; in Deutschland ungefähr zwei Drittel der Flächen.

Das macht es vermutlich schwierig, die Zukunft einer Art richtig einzuschätzen?

Voraussagen sind alles andere als trivial. Ein Beispiel: Um den Rotmilan steht es hierzulande zwar sehr gut. Er erfreut sich vieler Nachkommen. Die Hälfte des weltweiten Bestandes brütet derzeit in Deutschland. Das heißt aber noch lange nicht, dass er uns noch lange erhalten bleibt. Für solche Aussagen braucht man Daten, die über mindestens zehn Jahre erhoben werden und zwar jährlich auf dem immer selben Gebiet. Solche Daten gibt es in Deutschland bislang nur für Brutvögel und Schmetterlinge – nicht zuletzt dank der Arbeit von ehrenamtlichen Naturschützern. Wenn sich die Naturschutzgruppen besser koordinieren würden, dann könnte man auch sehen, wie sich die Populationen von Libellen, Laufkäfern und Heuschrecken hierzulande entwickeln.

In Europa sind vor allem Länder vom Artenschwund betroffen, in denen eine intensive Landwirtschaft betrieben wird – eine Landwirtschaft, die auf Pestizide und sogenannte Hochertragssorten setzt .

Die Artenvielfalt leidet sicher in Westeuropa am stärksten. Aber nicht nur. Wenn Rumänien, Bulgarien, die Baltischen Staaten und Polen ihre Landwirtschaft weiter intensivieren, leidet auch dort die Vielfalt. Wir haben in unserer Studie aber nur bestimmte Klassen untersucht. Wir wissen: Was Gefäßpflanzen, Säugetiere, Moose und Heuschrecken angeht, sieht es besser aus. Schlechter ist es um Reptilien, Fische und Libellen bestellt. Das ist die allgemeine Tendenz.

Lässt sich aus den heutigen Wirtschaftsdaten absehen, wie sich die Artenvielfalt künftig in Europa entwickeln wird?

Fest steht: Die Roten Listen werden länger. Alles andere würde mich sehr überraschen. In der Wissenschaft sprechen wir von einer Aussterbe-Schuld. Anders gesagt: Es gibt heute noch Tiere und Pflanzen, die es nicht mehr geben dürfte, weil die Lebensräume schon jetzt nicht mehr groß genug sind; welche Arten das sind, darüber möchte ich jetzt nicht spekulieren. Bislang konnte man eine solche Aussterbe-Schuld für begrenzte Waldbereiche und Grünländer – also Wiesen beispielsweise – nachweisen. Wir konnten nun zeigen, dass unser Kontinent als solcher eine Aussterbe-Schuld auf sich geladen hat. Diese Erkenntnis ist neu und überraschend. Und auch dass sich die Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts nicht nach 20 oder 30 Jahren zeigen, sondern oft erst nach 100 Jahren – auch das ist erschreckend. Selbst wenn wir jetzt Gegenmaßnahmen einleiten, zeigen sich positive Entwicklungen vermutlich erst in ein paar Jahrzehnten.

Seit Langem wird in Naturschutz investiert, und es werden Nationalparks ausgerufen. Warum konnte dies nicht den Artenschwund aufhalten?

Das Bewusstsein für die Umwelt ist heute europaweit ausgeprägter als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und damit auch der Wille zum Handeln. Das ist gut. Natürlich sind da auch ermutigende Beispiele: Im Harz vermehren sich Luchse, andernorts leben wieder Wölfe, Fischadler oder Seeadler. Gleichwohl wird ein Großteil der Böden immer intensiver beackert – und geht damit für lange Zeit verloren. Insgesamt gleichen die Maßnahmen im Naturschutz eher einem Tropfen auf dem heißen Stein.

Wäre mehr ökologischer Landbau ein Ausweg?

Gut möglich, auch wenn es keine Studien gibt, die zeigen, wie sehr er die Artenvielfalt schützt. Gut daran ist auf jeden Fall: Es gelangen weniger Stickstoffe und Pestizide in die Böden. Und Biobauern setzen auf eine artgerechtere Tierhaltung.

Welche Artenschutz-Maßnahmen sind denn wirkungsvoll, an die man anknüpfen sollte?

Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie von 1992 war ein gewaltiger Fortschritt. Seither konnten europaweit Naturschutzgebiete ausgewiesen werden. Wichtig wäre: Landwirte nicht nur für die Maximierung der Erträge zu bezahlen, sondern auch für eine naturgerechte Pflege. Sie sollen keine Landschaftspfleger werden, aber sie sollten ihre Praxis besser an Natur- und Umweltbelange anpassen. Wir brauchen auch Regeln, um die Versiegelung und Vernichtung von Lebensräumen zu begrenzen. Darüber wird in der EU gesprochen, aber es tut sich nicht viel.

Wie lange dauert es, bis sich Arten einen Lebensraum, aus dem sie einmal verdrängt wurden, wieder zurückerobern?

Hunderte von Generationen. Die Arten, die heute in Europa leben, sind mehr oder weniger nach der letzten Eiszeit eingewandert. Über mehrere tausend Jahre sind sie in Landschaften vorgedrungen, die der Mensch urbar gemacht hat. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Lebensräume noch sehr stark vernetzt, sodass die Arten wandern konnten. Heute ist das nicht mehr der Fall. Schon deshalb dürfte die Wiederbesiedlung ein Vielfaches länger dauern.

Ketzerische Frage: Die Artenvielfalt ist unter großem Druck, aber sonderliche ökonomische Probleme bereitet uns das ja nicht, oder?

Ganz ketzerische Antwort: Das wissen wir nicht. Wir wissen, dass vieles, was wir an „Ökosystem-Dienstleistungen“ aus der Natur bekommen, durch bestimmte Arten bereitgestellt wird. Eine ganze Menge von Baumarten hilft, Wasser und Luft zu reinigen. Viele Naturrohstoffe, Arzneimittel beispielsweise, sind ohne Tiere und Pflanzen undenkbar. Und als in Sachsen einmal zusätzliche Nisthilfen für Wildbienen aufgestellt wurden, stiegen die Erträge in einer nahen Obstplantage um 20 Prozent. Aber: Die Leistung, die von einer Art erbracht wird, kann auch von vier, fünf anderen Arten erbracht werden. Möglicherweise kommen wir mit 80 oder 50 oder sogar nur mit 20 Prozent der Arten aus. Fest steht: Wenn die Situation irgendwann so schlecht ist, dass die Bestäuber wegfallen, dann müssen wir diese Leistungen ersetzen. Dann ist es an uns, jemanden anzustellen, der zu Fuß und mit einem Pinselchen in der Hand von Pflanze zu Pflanze geht. Nur wann ist dieser Umkehrpunkt erreicht? Und vor allem: Wer soll das machen? Um uns abzusichern, sollten wir die Artenvielfalt schützen.

Aber die Natur dient ja nicht nur menschlichen Interessen …

Natürlich nicht, sie trägt auch einen Zweck in sich selbst. Man kann es die Bewahrung der Schöpfung nennen oder von einer Verantwortung gegenüber den Organismen und den Ökosystemen sprechen.

Gibt es Regionen in Europa, in denen sich bereits ökonomische Konsequenzen abzeichnen?

Was die Bestäuber betrifft, erleben die Landwirte in der italienischen Po-Region und auch in den Niederlanden massive Einbußen.

Noch steht der Forschungsansatz, den Sie und Ihre Kollegen verfolgen, am Anfang. Was planen Sie für die Zukunft?

Bisher haben wir nur ein sehr grobes Bild davon, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung auf die Artenvielfalt auswirkt. Deshalb müssen wir noch viel genauer hinschauen und nicht nur Länder, sondern auch einzelne Regionen betrachten. Denn es sind noch viele Fragen offen: Inwiefern unterscheidet sich die Situation von Lebensraum zu Lebensraum? Welche Räume sind am stärksten betroffen – durch welche Form der wirtschaftlichen Entwicklung? Irgendwann sollten wir sagen können: Dieses oder jenes Großprojekt – etwa eine Autobahn oder eine Großmastanlage – schadet der Artenvielfalt in dem und dem Maße.

Das Gespräch führte Dirk Liesemer.

nk0713denkstoffkuehn_S.jpgDr. Ingolf Kühn

ist Leiter der Arbeitsgruppe Makroökologie und stellvertretender Leiter des Departments Biozönoseforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt er sich mit Fragen des Natur- und Umweltschutzes und seit knapp 20 Jahren ist er in diesem Bereich wissenschaftlich tätig (seit 2001 am UFZ). Er erforscht, wie sich Klimawandel, nicht-heimische Arten und Industrie auf Ökosysteme auswirken.

 

Das Interview ist in natur 07/13 erschienen.

Foto: Fotolia/Naturfoto-Ottmann.de; UFZ/André Künzelmann

© natur.de – Dirk Liesemer
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